- Robinson Crusoe: Der Bürger als Leser
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»Eines Tages, da ich gegen Mittag zu meinem Boot ging, gewahrte ich zu meiner größten Bestürzung am Strand den Abdruck eines nackten menschlichen Fußes, der im Sand ganz deutlich zu sehen war. Ich stand da wie vom Donner gerührt, oder als hätte ich ein Gespenst gesehen; ich horchte, ich blickte um mich, aber es war nichts zu hören, noch zu sehen.« - Wer erinnert sich nicht an diese Szene aus der Geschichte Robinson Crusoes, als dieser nach 15 Jahren des einsamen Lebens auf seiner Insel zum ersten Mal wieder mit Menschen in Berührung kommt, allerdings, wie sich bald herausstellt, mit menschenfressenden Wilden. Als Kinderbuch zumeist und damit allerdings in gekürzter oder nacherzählender Fassung ist der Roman »The life and strange surprizing adventures of Robinson Crusoe. ..« bis heute lebendig. Er erschien erstmals 1719, kurz darauf folgten zwei Fortsetzungsbände.Die Grundsituation des Romanhelden ist die des einsamen Individuums und seines siegreichen Kampfes mit einer feindlichen Umwelt. Als einziger Überlebender eines Schiffbruchs hat Robinson sich auf eine Insel retten können, wo er sich mithilfe einiger aus dem Schiffswrack geborgener Utensilien eine eigenständige Welt aufbaut. Es ist eine auf ihre individuelle Zelle verkleinerte bürgerlich-puritanische Welt, angesiedelt auf einer tropischen Insel im Atlantik vor Südamerika.Schon lange bevor Robinson auf seine Insel verschlagen wird, hat er vielfältige Abenteuer zu bestehen gehabt. Ein unwiderstehlicher Drang nach der Ferne und nach Erlangung von Reichtümern hat ihn aus dem Elternhaus in England weggeführt, entgegen dem eindringlichen Gebot seines Vaters, die Segnungen jenes Standes nicht aufs Spiel zu setzen, »welcher der menschlichen Glückseligkeit am günstigsten« sei, nämlich des Mittelstandes.Robinson muss auf seiner Insel viele der Güter, die in der arbeitsteiligen Zivilisation selbstverständlich sind, zuallererst mühsam selbst herstellen. Sein Leben ist gekennzeichnet durch soziale Einsamkeit, aber auch technischen Erfindungsgeist, Selbstdisziplin, Arbeitsfleiß, Sparsamkeit bezüglich knapper Ressourcen. Sein Charakter ist der Inbegriff bürgerlicher Individualität.Im Laufe der Zeit lernt er, seinen Schiffbruch als göttliche Strafe für seine Sünden und als Chance zum Neuanfang zu verstehen. Die Sündhaftigkeit besteht wesentlich darin, das väterliche - und zugleich göttliche - Gebot der Mäßigung des Erwerbstriebs missachtet zu haben. Aus der Reue über ein verfehltes Leben wird allmählich der Trost der göttlichen Vorsehung, die ihn vor einem noch elenderen Schicksal bewahrt hat. Die materielle Verlustbilanz erweist sich als geistliche Gewinnbilanz, die sich am Ende dann auch wieder in materiellem Wohlstand ausdrückt. Nachdem Robinson, nach 28 Jahren auf seiner Insel und mehreren Hundert Romanseiten, schließlich wieder in die Zivilisation zurückgekehrt ist, ist er vor allem und ausführlich damit befasst, seine Vermögensverhältnisse zu ordnen.Eine Revolution auch des LesensDer Autor des Romans, Daniel Defoe, war ursprünglich Kaufmann, musste überschuldet Bankrott anmelden, arbeitete sich als Fabrikant wieder hoch, wurde politischer Propagandist und Regierungsberater, verfasste zahlreiche Flugschriften und wurde so zum populärsten Journalisten Englands; er wurde ins Gefängnis geworfen, machte erneut ökonomisch Bankrott, gründete eine der ersten Wochenzeitungen und wurde ein äußerst produktiver und erfolgreicher Schriftsteller.Seine Tätigkeiten waren gekennzeichnet durch Unrast und Maßlosigkeit. Er war ein Mann der ökonomischen, politischen und journalistischen Strategien und Versteckspiele, deren Preis die seelische Vereinsamung war. Robinsons Schicksal war, wie er bekannte, ein Gleichnis für sein eigenes Leben. Und dieses Leben war ein geradezu beispielhafter Ausdruck der Modernisierung, die die englische Gesellschaft um 1700, nach einem Jahrhundert der Religions- und Bürgerkriege, erfasst hatte, und womit England dem übrigen Europa fast um ein Jahrhundert voranging. In dieser Zeit entstanden alle wichtigen Institutionen, die die bürgerliche Ökonomie bis heute bestimmen: Zentralbank, Papiergeld, Börse, Kreditwesen, Versicherungen, freier Handel.Die »Glorious Revolution« von 1688 hatte die Vorherrschaft der Protestanten über die Katholiken besiegelt und damit die Machtbefugnisse der Monarchie beschränkt. Mit der Deklaration der »Bill of Rights« wurde die Basis für eine verfassungsmäßige Gewaltenteilung der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft gelegt. Damit wurde noch keine parlamentarische Regierungsform im heutigen Sinn geschaffen, vielmehr wurde die Macht zwischen Monarchie, Staatskirche, adligen Grundherren und großbürgerlichen Handels- und Finanzherren verteilt. Verwaltung, Handel und Gewerbe bedurften jedoch in der Folgezeit zunehmend besser ausgebildeter Menschen, und so drängte im Laufe des 18. Jahrhunderts auch das niederere Bürgertum zur politischen Macht. Dass dieses ein entsprechendes Selbstbewusstsein entwickelte, dazu trug nicht zuletzt eine geschichtlich ganz neuartige Lesekultur bei.Diese Kultur war vor allem eine der Zeitschriften, die nicht mehr bloß den Gelehrten vorbehalten waren. Man begnügte sich bei der Lektüre nicht mehr mit der Bibel und einigen religiösen Erbauungsschriften, sondern verlangte nach Belehrung, Unterhaltung und aktuellen Nachrichten für das alltägliche bürgerliche Leben. Man las und diskutierte die Flugschriften und Zeitungen in den neu entstandenen Kaffeehäusern und Clubs. Dabei ging es teils um Wirtschaftspolitik, teils um Fragen der Moral und des richtigen Verhaltens, etwa was einen »Gentleman« ausmachte. Nicht mehr die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand legitimierte die Teilnahme an der öffentlichen Debatte, sondern allein die Beherrschung ziviler Umgangsformen.Ein neuer Markt entstand, der der Zeitungen und Bücher, und eine neue Macht, die öffentliche Meinung. Nachdem 1694 eine weitgehende Pressefreiheit eingeführt worden war, erschienen zahlreiche neue Blätter, so auch Defoes »Review«, das erste Wochenblatt, das nicht nur Nachrichten, sondern auch Kommentare enthielt.Ein Schlüsseltext der ModerneDie wichtigste literarische Form, mittels derer das Bürgertum in einer Zeit des rapiden sozialen Aufstiegs sein Selbstverständnis entwickelte und eine neue Innerlichkeit herausbildete, war die des Romans, und »Robinson Crusoe« war der erste realistische Roman. Mit ihm bemächtigte sich das Bürgertum der hohen Literatur, die zuvor dem Adel vorbehalten war. Seine Erzähltechnik ist die des detaillierten Tatsachenberichts. Diese Wirkung wird dadurch verstärkt, dass Defoe sich in der Vorrede als bloßen Herausgeber einer in der Ichform verfassten Autobiografie präsentiert.Nicht zufällig ist die Grundsituation Robinsons, die Einsamkeit, auch die des Lesers. Romane zu lesen ist ein individuelles Vergnügen, das dem Bedürfnis der Subjektivierung des Erlebens entspricht. So ist »Robinson Crusoe« ein Schlüsseltext der Moderne. In weiteren Romanen, deren bekannteste Jonathan Swifts »Gullivers Reisen«, Samuel Richardsons »Pamela« und Henry Fieldings »Tom Jones« sind, wurde die Kulturrevolution der bürgerlichen Gefühlswelt, im Widerspruch zu den nun als bizarr oder verkommen erscheinenden Verhaltensweisen des Adels, vorangetrieben.»Robinson Crusoe« spiegelt und befestigt zugleich die für das Zeitalter der Aufklärung eminent wichtige Bejahung des gewöhnlichen Lebens. Der Roman enthält eine eigentümlich doppelte, in sich widersprüchliche Botschaft: Dem ausdrücklichen Erleben des Helden zufolge ist sein Dasein elend und sein geistlicher Zustand Reue und Buße. Zugleich haben, der lebendigen Schilderung nach, noch die alltäglichen Verrichtungen den hohen Reiz des Abenteuers; die Leser können sich mit Genuss in Robinsons Welt, seine Behausung, seine fortschreitenden Überlebenstechniken, seine Streifzüge hineinträumen. Seine Einsamkeit ist nicht nur Strafe, sondern auch Zuflucht.Prof. Dr. Gunzelin Schmid Noerr
Universal-Lexikon. 2012.